Hohe Breitengrade

– Jahreswechsel 2002/03 –

 

Mittwoch, 25. Dezember 2002

Bei Itzehoe verlässt der letzte Wagen vor uns die Autobahn, bei Heide der letzte hinter uns. Dann wird es zweispurig. Das Land wirkt grau und verlassen, die Dämmerung bricht herein. Gibt es hier Menschen, ein Rasthaus am Ende des Universums?

Regen nieselt auf die Windschutzscheibe, hoffentlich wird er auf der kalten Fahrbahn nicht zu Eis. Verdächtig glänzt es am Straßenrand. In Heide ist das Streusalz ausgegangen, wurde vor einer Viertelstunde im Radio durchgegeben. Man warnt vor extremer Straßenglätte, besonders in Nordfriesland.

Wo bin ich, wo will ich hin – die zweite Frage ist leichter zu beantworten als die erste. Der Raum verschwindet bei diesem Licht in der Zeit. Da war doch vor zehn Minuten ein Hinweisschild nach Lunden, hätten wir nicht schon längst an der Eiderbrücke sein müssen? Ein paar Autos kommen uns entgegen, es gibt also Leben am Rande der Welt, und die Straßen scheinen befahrbar zu sein. Ein zweites Hinweisschild nach Lunden, und dann kommt tatsächlich die Eiderbrücke in Sicht.

Was wirklich glatte Straßen sind, merken wir in Tönning. Keine Ahnung, wie wir ohne im Hafenbecken zu landen bis vor das Haus der Wulffs gekommen sind. Ein Verlassen des Autos ist auf der Fahrerseite unmöglich, eine absolute Lebensgefahr in dieser Eiswüste. Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze hieß ein Reisebericht von Alfred Andersch aus arktischen Gefilden. So kommen wir uns jetzt vor. Wir schliddern am Auto und dann an der Hauswand entlang zur Tür und klingeln.

Frau Wulff lacht, freut sich, dass ihre zahlenden Gäste es doch noch geschafft haben. Gestern war Tönning ganz geschlossen, erzählt sie, selbst die Taxichauffeure weigerten sich zu fahren.

Am Abend rutschen wir über die Straße zur Tönninger Stuv und bekommen einen Tisch, den andere abgesagt hatten, weil ihnen heile Knochen wichtiger als ein gefüllter Magen waren. Der Versorgungsnotstand zeigt sich auch beim Menü: die Champignons zum Schnitzel sind aus der Dose.

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Donnerstag, 26. Dezember 2002

Uber Nacht hat es zu tauen begonnen, wir stapfen durch Schneematsch und Pfützen. Tönning hat geschlossen, doch manch ein alteingesessener Laden nicht nur heute, sondern für immer. So das Schreibwaren- und Buchgeschäft an der Neustraße, in dem der Kopierer des Ortes stand. Den findet man jetzt beim Optiker.

Wir wandern die Restaurants des Ortes ab, sie alle haben eine Speisekarte aushängen. Verhungern ist also ausgeschlossen. Nur im Hafenblick gibt es zwischen den Jahren keine warme Küche. Vielleicht hat sich der Koch verkühlt, er hätte sich wärmer anziehen sollen.

Auch in St. Peter Ording sind am zweiten Weihnachtstag alle Ladentüren verriegelt, selbst die der Souvenirshops. In dieser Hinsicht können die Nordfriesen von ihren ostfriesischen Verwandten noch viel lernen, die machen jetzt gerade guten Umsatz. ‘Wenn morgen die Welt untergeht, fahre ich heute noch nach Eiderstedt, denn dort passiert alles 50 Jahre später’, geht mir frei nach Bismarck* durch den Kopf. So wird es noch eine Weile dauern, bis man auch an der Westküste darauf kommt, dass Touristen an langweiligen Festtagen gerne shoppen. Es seien die einträglichsten Tage des Jahres, erzählte uns unlängst eine Verkäuferin aus Carolinensiel. Nur die Rasthäuser sind an diesem Rande des Universums auf Touristen eingestellt.

Hohe Breitengrade – die Sandbank ist eine Eiswüste, mittendrin die drei Pfahlhäuser. Doch kein Teepunsch und kein Pharisäer wird in dem größten, der Arche Noah, ausgeschenkt, denn die ‘Polarstation’ ist wegen Renovierung geschlossen. Vielleicht ist deshalb das Kontrollhäuschen an der Seebrücke verwaist und die angedrohte Kurtaxe wird nicht erhoben.

Wir wandern bis zum Ende des Steges, wo sich das Packeis als Matscheis herausstellt. Nichts für unsere Fußbekleidung, also schieben wir uns gegen den Wind mit tropfenden Nasen aufs Festland zurück. Im Café über der Buchhandlung gibt es warmen Apfelstrudel mit Eis und Eierlikör, dazu für jeden einen Pott Pharisäer.

Fast hätte ich es vergessen, aber noch eine Institution hat geöffnet: das Lichtspieltheater, in das wir nun wechseln, um uns Harry Potter und die Kammer des Schreckens anzutun. Die plattdeutsche Übersetzung Harry Potter un de grulig Kammer klingt irgendwie besser. Was von dem Film in Erinnerung bleibt, ist Mr. Weasleys philosophische Frage, wozu der gemeine Mensch Gummienten braucht. Aber auch die nicht minder philosophische Frage des Betrachters, warum immer nur hübsche junge Mädchen versteinert werden und keine Mütter und Schwiegermütter, bleibt unbeantwortet.

* Bismarck behauptete dies von Mecklenburg.

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27./28. Dezember 2002

Hildegard an Gisela – Brief aus dem Norden

Liebe Gisela – So, der Spruch oben auf der Karte (Frohe Weihnachten) ist korrigiert, und jetzt kann die Schreiberei losgehen. Hier herrscht ein Sauwetter, entweder Regen vom Typ ‘Dauer’ oder alles ist nebelig und trüb. Wir kommen gerade aus Husum zurück, so grau war die Stadt noch nie! Gegen Mittag war es so dämmerig-nebelig, dass man die Zugbrücke am Hafen kaum sehen konnte.

Dafür war die Sicht bei C.J. Schmidt umso besser. Für Jürgen haben wir eine um 50 % reduzierte, aber immer noch sündhaft teure Lederjacke erstanden. In D-Mark wäre der Betrag vielleicht gerechtfertigt gewesen, aber in Euro? Aus schwarzem Kalb-Nubuk-Leder, lang und mit herausknöpfbarem Wollfutter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die jemand zum ursprünglichen Preis gekauft hätte. Die Hälfte ist zwar immer noch viel zu teuer, aber was soll’s.

Um nicht lange darüber nachzugrübeln, habe ich mir ein Stockwerk tiefer einen Jeansanzug gekauft, schwarz mit unregelmäßigen, samtartig schimmernden Flecken. Im Nachweihnachts-Schlussverkauf zwanzig Euro billiger.

Ich bleibe mal bei unseren Einkäufen, was außer Shoppen kann man bei diesem Wetter auch tun? Da ich Jürgen noch nichts zu Weihnachten geschenkt hatte, habe ich ihm gestern in St. Peter Ording einen Pullover gekauft – ich konnte ja nicht ahnen, worauf wir uns einen Tag später in Husum einlassen würden. Seit wir damals in Tønder waren (du erinnerst dich?), liebäugelte er mit einem gewissen ‘Blue Willi’ aus blauem Jeans-Baumwollgarn. Im Craftshop von Roundstone gibt es die auch. Gestern war es dann so weit. Die Verkäuferin hatte den Preis, über den ich hier besser nicht rede, damit gerechtfertigt, dass diese Strickware ein Leben lang hält und auf Waschmaschinen- und Trocknerbehandlung nicht beleidigt mit Verformungen reagiert. Ein unschlagbares Argument! ‘Hält ein Leben lang’ zieht bei Jürgen immer, so ungern wie er Kleidung kauft.

Wenn Regen und der Nebel anhalten, sind wir wahrscheinlich in einer Woche pleite. Spannend, nicht wahr?!! Morgen müssen wir uns wohl auf eine Nebelwanderung beschränken, denn morgen ist Sonntag. Da haben hier nur die Restaurants geöffnet. Auf dem Heimweg von St. Peter Ording waren wir übrigens in Kerlins Kupferpfanne in Garding. Deine Empfehlung, Schweizer Rösti mit Lamm Provenzale und Raspelsalat, war genial!

Im Kino (Harry Potter und die Kammer des Schreckens) waren wir auch schon. Es ist herrlich, den ganzen Tag vor sich liegen zu sehen und keine Verpflichtungen und Termine zu haben. Trotz des Schmuddelwetters erholen wir uns prächtig. Am Montag fahren wir mit dem Schleswig-Holstein-Ticket nach Sylt; ich bin schon gespannt, was man da einkaufen kann. Hoffentlich ist es dann nicht gar so finster und nass, ein bisschen Meer würde ich auch gerne erspähen.

Briefmarke PackhausGestern Nachmittag waren wir zum ersten Mal im Packhaus, bisher waren seine Pforten immer verrammelt. Das alte Gemäuer ist ab sofort auf der 45-Cent-Briefmarke zu sehen. Anlässlich dieses Ereignisses wurde sie an Ort und Stelle der Weltöffentlichkeit präsentiert und es gab einen Sonderstempel. Schau mal auf den Umschlag! Da kannst du sehen, wie berühmt Tönning jetzt wird. Oder auch nicht, denn welches Schaf achtet schon auf ein Briefmarkenmotiv.

So, jetzt weiß ich nichts mehr, auch wenn noch eine halbe Seite frei ist. Ich hätte gar nicht so eng schreiben und Papier sparen müssen.

Viele Grüße von Hildegard und Jürgen”

Der Chronist fährt fort

Kein Schaf schert sich um das Briefmarkenmotiv? Da muss ich aber widersprechen, wo doch unser Reiseschaf Eileen Óg ihren daheimgebliebenen Artgenossen eine Karte mit eben dieser Briefmarke und dem Sonderstempel geschickt hat. Hier der Text:

Eileen Óg“Hallo Maureen, Sir Edward, Sgt. Pepper, Paul — dank meines phänomenalen Orientierungsvermögen haben wir trotz widrigster Umstände bei Nebel, Eis und Sintflut hierher gefunden. Gut, dass ihr mit Paul in Dortmund geblieben seid, hier ist es viel zu gefährlich für ihn. Auch wegen der vielen Wölfe, von denen ich immer wieder höre. Um der Plage Herr zu werden, wurde ich informiert, werden sie gejagt und auf die Speisekarten der Menschen gesetzt. In Kerlins Kupferpfanne in Garding gab es neulich ‘Schweizer Rösti mit Wolf Provenzale und Raspelsalat’, hat man mir gesagt. Habt ihr so was schon mal gehört?

Einen schönen Gruß, Eileen Óg”

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Sonntag, 29. Dezember 2002

Ein Sonntag in der kleinen Stadt, und bislang erweist er sich als relativ trocken. Die Eidermündung ist zwar ganz schön, aber wir wollen das richtige Meer sehen und fahren nach St. Peter Dorf. Dort gibt es, sofern nicht gerade der Wochenmarkt abgehalten wird, links der andalusischen Kreuzung* einen großen, gebührenfreien Parkplatz. Auf halbem Wege dringt etwas Blau durch das Grau des Himmels, doch der blaue Hoffnungsschimmer schwindet schon bald wieder im Dunst. Salzig und feucht die Luft, aber das ist bestimmt gesund.

Wir schlendern durch St. Peter Dorf. Das in einem langgestreckten Friesenhaus untergebrachte Eiderstedter Museum, hat seine Pforten geöffnet. Es zeigt eher mittelständisches Niveau, schreibt Nis R. Nissen, und steht im Gegenstück zum herrschaftlichen Roten Haubarg im Adolfskoog am anderen Ende der Halbinsel, der die großbäuerliche Seite repräsentiert. Die Läden und Souvenirshops sind hingegen geschlossen. Wir passieren die Galerie eines Malers mit einer Vorliebe für knallige Farben. Seine Frau malt dezenter und steht, so liest man auf einem Schild im Fenster, auch für die Interpretation der Werke ihres Mannes zur Verfügung. Vielleicht ist sie die einzige, die ihn versteht. Sollten die beiden zu den angegebenen Preisen ein bis zwei Bilder pro Tag verkaufen, müssten sie gut davon leben könnten.

Am Ende der kleinen Shoppingmeile suchen wir das Meer – und fallen wieder einmal auf den ‘Dünenweg’ rein, der uns zwar in die Dünen, doch statt ans Wasser im Bogen zurück zum Ortseingang bringt, wo wir uns einen anderen Weg zum Strand suchen.

Jenseits des Deiches führt ein befestigter Pfad zu den Pfahlhäusern auf der Sandbank. Wir sind nicht die einzigen, die sich dieses Ziel gesetzt haben, auch wenn es nun zu regnen beginnt. Viel junges Volk ist unterwegs; alle sind gut gelaunt und das Schmuddelwetter scheint niemanden etwas auszumachen. Vor uns drei Generationen: Großeltern, Eltern und wohlverpackt ein kleiner Junge mit Eimer und Schüppe. Im Friesennerz zum Sandbuddeln! Bei den Pfahlhäusern kehren wir um, während sich der Kleine mit seinem Tross weiter Richtung Wasserkante bewegt.

* Im Frühjahr hatten wir die andalusische Atlantikküste besucht und uns über die völlig überdimensionierten Straßenkreuzungen gewundert.

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Montag, 30. Dezember 2002

Einmal Westerland sehen, Fischbrötchen essen, einen Rollkragenpullover kaufen, einen Pharisäer trinken, mit der Bahn zurückfahren und weiterleben. Sylt mag seine schönen Seiten haben, doch Westerland ist kein Ort für uns. Was bleibt, ist die Erinnerung an aufgetakelte Menschen, die sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mit einem Sektkühler an Stehtischen vor Gosch’s Fischimbiss versammeln und giggernd ihren Schampus schlürfen.

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Dienstag, 31. Dezember 2002

Mitten in der Nacht, vielleicht ist es auch schon früher Morgen, weckt mich mein Mädchen: “Weißt du was, der Himmel ist klar, überall Sterne!” Natürlich weiß ich das, habe ich sie doch extra für sie bestellt.

Der Morgen ist frostklar, der Himmel blau – wie an allen Sylvestertagen, die wir bislang hier verbracht haben. Der erste schöne Tag seit Wochen, meint die Krabbenverkäuferin am Hafen, bei der wir uns für heute Nacht eindecken. 2002 will in guter Erinnerung bleiben.

Wir sind auf dem Weg nach St. Peter Dorf. Ins Auto zu kommen, war nicht einfach gewesen: die rechte Tür und die Heckklappe waren zugefroren, nur die linke ließ sich öffnen. Ein hauchdünner Weißschleier liegt auf den Wiesen. Die niedrig stehende Sonne lässt ihn glitzern, blendet jedoch beim Fahren.

Wir parken auf dem Marktplatz vor dem Ortseingang. Je mehr Platz man hat, desto schwerer fällt die Abstimmung über die beste Parkposition – gut, wenn da kein Ehekrach raus wird. Im Brunnen vor dem Tore steht in Bronze gegossen ein Schollenfischer mit seiner Fischerin, die auf traditionelle Weise ‘Bud pedden’, das heißt, im ablaufenden Wasser mit nackten Füßen nach Plattfischen tasten, um sie anschließend mit einem flachen, kescherartigen Gerät einzusammeln. Auf dass am Abend ‘Scholle satt’ auf den Teller kommt!

St. Peter hieß ursprünglich nur dieses eine Kirchspieldorf, das jetzt als Teil der Gesamtgemeinde St.-Peter-Ording zwischen St.-Peter-Bad und St.-Peter-Böhl liegt. Beiderseits der Kirche aus dem 13. Jahrhundert sind noch Relikte von ihm zu entdecken. Wir begeben uns auf den Deich. Zwei Kilometer sind es vom Dorf zum Bad; wir sind nicht die einzigen, die sich die Strecke hin und zurück vorgenommen haben. In den Wattlachen und auf den Salzwiesen spiegelt sich der Himmel. Die Sonne scheint über die Pfahlhäuser der Sandbank und erwärmt die linke Backe, während landeinwärts das rechte Ohr abfriert. “Selbst in Schuld!”, meint mein Mädchen, “setz doch deine Mütze auf.” Die aber kratzt und juckt auf der Stirn und an den Ohren. Irgendwie sind mir alle käuflichen Mützen zu eng. Ob man daraus auf einen Dickschädel schließen kann?

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Mittwoch, 1. Januar 2003

Sternenklar vor ein paar Stunden die Nacht, über dem Hafen begrüßte ein Sternschnuppenregen das neue Jahr. Nach nur kurzem Schlaf präsentiert sich sein erster Tag trüb und grau. Vielleicht haben wir den Jahresaustreibern mit ihrem Rummelpott zu wenig Silber gegeben. Auf den Straßen werden die abgebrannten Feuerwerkskörper zusammengekehrt.

Bei Schmuddelwetter machen wir eine Runde über den Eiderdeich. Seltsam sieht es aus, wie Schnee- und Eisschollen flussaufwärts nach Friedrichstadt treiben. Eine Boje wird unter die Wasseroberfläche gedrückt und taucht mit einem Krachen wieder auf. “Quack!” kommentiert dies eine Eiderente, derweil sie durchs eiskalte Wasser paddelt.

Wir sind wieder in unserer Ferienwohnung, sehen Meditatives aus Connemara in einem der vielen dritten Fernsehprogramme, die wir in Dortmund nicht empfangen können. ‘Viele Menschen beschäftigen sich ein Leben lang damit, sich aufs Leben vorzubereiten, anstatt es zu leben’, lautet das Resümee, eine Erkenntnis des irischen Dichter Patrick Kavanagh. Beginnen wir also zu leben. Und dann lichtet sich der Himmel und wir gehen noch einmal auf den Deich.

Bei Vollerwiek, © 2002 Juegen Kullmann

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Donnerstag, 2. Januar 2003

Schon gestern Abend hatte Schneefall eingesetzt, ein nasser Schnee, der Schlimmes ahnen ließ. Statt wie geplant nach Garding zu fahren, begnügen wir uns mit Lammspießen beim Griechen am Markt. Der Heimweg war eine Rutschpartie.

Heute Morgen ist das Auto in einen Eisblock gegossen, auf den Gehwegen kratzen und hacken die Anwohner mit Spaten und Schaufeln in das Eis. Ein mittelprächtiges Verkehrschaos. Der Zug nach Husum verkehrt nur alle zwei Stunden, zu Abfahrtszeiten, die keiner genau weiß. Der Fahrer eines Schienenersatzverkehr-Busses kommt an den Schalter, an dem wir wagemutig ohne garantierte Rückfahrzeiten ein Kleingruppenticket nach Husum erworben haben. Er fahre jetzt nach Husum, ob jemand mitwolle?

“Nach Husum?” Sie habe doch soeben zwei Passagiere nach St. Peter Ording in den Bus geschickt, zeigt sich die Aufsichtsbeamtin über eine Schranke, zwei Weichen und einen Fahrkartenschalter überrascht. Wir nehmen den Bus, derweil ihn die Fahrgäste nach St. Peter Ording wieder verlassen dürfen.

Die Stadt begrüßt uns, wie sie uns am Sonnabend verabschiedet hatte, als graue Stadt am grauen Meer. Wir wandern durch die Wasserreihe zum Hafen hinunter. Der Puppendoktor zur Linken löst seine Praxis auf. Nach fünfzig Jahre, teilt er auf einem handgemalten Pappschild mit, wolle er sich mit 84 zur Ruhe setzen. Das Stormhaus zur Rechten ist geschlossen. Zu Sylvester waren alle geladen: ein Empfang in historischen Räumen, eine Führung durch die Stadt auf Storms Spuren, Lesungen und ein Sylvesterbüfett. Im Gegenzug wurde von jedem Teilnehmer ein Gastgeschenk in Höhe von 48 Euro erwartet.

Wir stehen am Außenhafen. Die Flut hat ihren Höhepunkt erreicht, es fehlt nicht mehr viel, und das Wasser schwappt über die Kante des Hafenbeckens. Ob es der Landvogt Storm schon einmal in seiner Amtsstube hatte? Der Hafen lag ihr zu seinen Lebzeiten näher als heute. Noch ein paar Zeilen aus einem Gedicht von ihm, ehe es morgen zurück nach Dortmund geht.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

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Reiseberichte Nordfriesland: 8. Reise, Jahreswechsel 2002/2003
© 2007 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 20.11.2008