Im Kuschel-Cottage

– Jahreswechsel 2001 / 2002 –

 

Mittwoch, 26. Dezember 2001

Schneetreiben hinter Bremen. Noch geht die Fahrt nach Osten, doch schon bald machen wir einen Schwenk nach Norden – unsere Flucht vor dem ‘sonnigen Süden’ soll nicht in Sibirien enden. Am Ausgang des Elbtunnels lässt das Schneegestöber nach. Hinter Itzehoe kommt die Sonne heraus und lässt das Land vor einer fast schwarzen Wolkenwand aufleuchten. Lag dort im Nordwesten nicht einst

Rungholt, verschlungen vun dat Meer,
Rungholt, helpen kann di keener mehr.
Rungholt, dien Tied is lang vörbi,
Rungholt, doch du leevst een Stück in mie,

wie es aus dem Kassettenspieler des Autoradios klingt? Nur noch wenige Fahrzeuge sind auf der A 23. Dann zieht sich der Himmel erneut zu und produziert ein Gemisch aus Schnee und Regen, bis die Sonne wieder die Oberhand gewinnt. Doch nicht für lange.

Zum zweiten Mal verbringen wir einen Jahreswechsel in Tönning. Im März waren wir in Andalusien und im Juni und Oktober in Irland, der Fahrradurlaub bei den Friesen musste ausfallen. Jetzt wird die Autobahn zur Bundesstraße. Links voraus taucht der Kirchturm von Tönning auf, wir fahren über die Eider. Ob sich Frau Stark an die telefonische Reservierung erinnert? Eine schriftliche Bestätigung von ihr haben wir nicht. Es ist Viertel vor eins.

Frau Stark erinnert sich, und die Ferienwohnung im Dachgeschoss ihres Hauses erweist sich wie versprochen als ‘Kuschel-Cottage’.

*  *  *

Eine neue Straßenbaustelle, sonst hat sich, so unser erster Eindruck, in Tönning nicht viel getan. Auf dem zweiten Blick stellen wir fest, dass ein ‘Wahrzeichen’ verschwunden ist, die je nach Wasserstand schwimmende oder im Schlamm steckende Hafenspelunke Nautilus. Auch wenn wir sie nie aufgesucht haben, vermissen wir sie; sie gehörte zum Hafenbild und lieferte Stoff für viele Spekulationen. An ihrem Anleger schwimmt nur noch eine Bretterplattform im Wasser. Schade, dass ich sie nie fotografiert habe.

Etwas später finden wir uns zum Mittagsimbiss im Hafenblick ein. Die Bratkartoffeln sind lauwarm, und dass es keinen frischen Salat gibt, wird mit dem Feiertag begründet. Die Grenze zur DDR liegt schließlich nur hundert Kilometer entfernt und wurde erst vor 12 Jahren abgeschafft.

Anschließend regnet es sich ein – das richtige Wetter für ein Kuschel-Cottage.

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Donnerstag, 27. Dezember 2001

Es regnet. Einkaufen ist angesagt, solange es noch die D-Mark gibt, und das sind nur noch wenige Tage. Wir starten am frühen Morgen mit

– vier Ansichtskarten und
– einem Paar Schuhe

für den Verfasser dieser Zeilen und setzen die Kauforgie gegen Mittag mit

– einer Felleinlage für seine Regenjacke sowie
– einer unbekannten Stückszahl gepulter Nordseekrabben

fort. Unverseucht durch Benzoesäure gibt es sie in Tönning nur bei Guszinkis am Hafen, denn hier pult man noch vor Ort. Ansonsten werden sie zur Verarbeitung nach Osteuropa oder Nordafrika geschickt, um sich dann von ihrer Hülle befreit wieder auf den Rückweg zur Nordseeküste zu machen, eine Reise, die sie ohne Konservierung nicht überstehen.

Unser Mittagsimbiss besteht folglich aus einem Krabbenbrot mit Spiegelei und Gurke. Dann fahren wir – es regnet immer noch – nach St. Peter Ording und erwerben in der Buchhandlung Tewes

– einen Friesenkrimi sowie
– Harry Potter and the Philosopher’s Stone und die beiden Folgebände

um (a) herauszufinden, warum Nichten & Neffen einen solchen Narren an den Zauberlehrling gefressen haben, und (b) etwas für seine Englischkenntnisse zu tun. In Kürze soll das Buch als Harry Potter un de Wunnersteen auch in plattdeutscher Sprache erscheinen.

Am Abend wird uns im Roten Hahn Guinness zum Matjesteller versprochen, das dann aber zu einem dunklen Flens mutiert, da der schwarze Stoff bereits am Vortag ausgegangen ist. Beim Verlassen des Restaurants regnet es immer noch – das richtige Wetter also für ein Kuschel-Cottage.

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Freitag, 28. Dezember 2001

Mit der im Stundentakt verkehrenden Nord-Ostsee-Bahn geht es nach Husum. Der Fahrkartenschalter in Tönning ist wegen der Euro-Umstellung geschlossen, doch in den Zügen soll es einen Automaten geben ... vor dem wir eine Viertelstunde später recht ratlos stehen, da er keine Bedienungsknöpfe aufweist. Doch eine computererfahrene Deern hat den Trick rasch raus. Es wäre auch ohne dem gegangen, denn weder auf der Hin- noch auf der Rückfahrt werden wir kontrolliert.

C.J. Schmidt zählt uns heute nicht zu seinen Kunden. Wat de Deern nich toseggt, sagt ihr nun mal nicht zu, da helfen auch Preisnachlässe von bis zu 60 % nicht. Zum Ausgleich macht Karstadt Umsatz mit einer grünen Lederbluse und einer schwarzen Hose. Und da meinem Mädchen die zu diesem Outfit passende Fußbekleidung noch fehlt, folgt eine Odyssee durch Husums Schuhgeschäfte. James Joyce hätte daraus ein tausendseitiges Werk der Weltliteratur gemacht, mir fehlt leider diese Begabung.

Die beiden Buchläden der Stadt kommen nicht zum Zug, auch wenn bei Delff eine wunderschöne illustrierte Ausgabe des Schimmelreiters im Schaufenster liegt – für gerade einmal 2.200 DM. Besser bis Mittwoch warten, dann gibt es den Euro und der Preis klingt nur noch halb so gewaltig. Da wir aber schon am Dienstag abreisen, muss sich das Buch einen anderen Käufer suchen.

Stattdessen gönnen wir uns zum Abschluss der Expedition eine Tasse Tee und ein Stück Eierlikörtorte in Jacqueline’s Café am Schlossgang. Rappelvoll ist es bei dem Schietwedder. Kommt ein neues Pärchen durch die Tür und schaut sich verzweifelt nach zwei freien Plätzen um, ist es stets sie, die vorgeschickt wird um zu fragen, ob man sich irgendwo dazusetzen dürfe. Tröstlich, dass das nicht nur bei uns so ist.

Mit dem Halb-Sechs-Zug fahren wir wieder heim. Es regnet immer noch, also genau das richtige Wetter für einen Abend in einem Kuschel-Cottage. Wenn es schon keinen Schnee gibt, dann malt man sich eben sein winterliches Friesland:

Winter in Friesland, © 2006 H. Vogt-Kullmann

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Sonnabend, 29. Dezember 2001

Die Sonne scheint, es ist kaum zu glauben. Nach dem Freikratzen der Scheiben – vor allem von innen – geht es über verweis(ß)te Straßen nach Westen. Streckenweise etwas rutschig, doch die Sonne sorgt dafür, dass das Weiß auf der Fahrbahn weniger wird.

Hinter Garding biegen wir rechts ab nach Osterhever. Nicht ein Fahrzeug kommt uns entgegen. Die Biller-&-Böker-Galerie öffnet erst gegen zwei, da fahren wir gleich weiter nach Westerhever. Auf dem Schotterplatz vor dem Deich will keiner die ausgewiesene Parkgebühr kassieren, obwohl wir nicht die einzigen Besucher sind. Selbst die Fischbrötchenbude hat geöffnet und bietet für Gäste aus weniger flachen Regionen Europas Wiener Würstchen an.

Lang ist der Pfad über die feuchten Salzwiesen zum Leuchtturm. Zwar ist er durch Steinplatten befestigt, doch die haben sich mit den Jahren so weit gesenkt, dass er stellenweise unter Wasser steht. Beim Versuch die Wasserlachen zu umgehen ist Vorsicht geboten: es quakt unter den Füßen und schon dringt Feuchtigkeit durchs Leder. Schon bald haben die Hosen Schlammstreifen unten an den Beinen. Demnächst soll es diese auch fest eingearbeitet bei C.J. Schmidt in Husum geben, statt stone-washed ‘Frisian mud-washed’:

Sonderangebot
Original friesische Feuchtwiesen-Jeans
mit Westerhever Schlamm

Waschanleitung:
Handwäsche in Salzwasser bei max. 5 °C

Das Licht schwindet am Horizont, es naht eine dunkle Wolkenwand mit Schneegestöber. Kein Problem, wenn man eine garantiert wasserfeste irische Regenjacke mit warmer, friesischer Innenausstattung trägt.

Dann stehen wir vor Deutschlands berühmtestem Leuchtturm mit seinen zwei Häuschen rechts und links. Er befindet sich in Privatbesitz. Bei ernsthaftem Kaufinteresse an Leuchtturmliteratur darf man auch anschellen, andernfalls wird gebeten, davon Abstand zu nehmen. Wir nehmen Abstand und wandern zum Auto zurück.

 
Nachtrag

‘Biller und Böker’ haben wir auf dem Heimweg keine erworben. Die angebotenen Böker, soweit von Interesse, besaßen wir schon, und bei den Biller hatten wir noch die Preise von vor fünfzehn Monaten im Sinn. Mittlerweile sind sie in Euro ausgezeichnet, und wie es scheint, ging die Umstellung so vonstatten, dass die Zahl stehen blieb und nur das Währungszeichen geändert wurde. Da malt mein Mädchen lieber selbst in unserem Kuschel-Cottage.

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Sonntag, 30. Dezember 2001

Auch heute kein Schietwetter, der richtige Tag also für eine Wanderung über den Eiderdamm zum Sperrwerk. Im März 1973 wurde dieses bislang größte deutsche Küstenschutzprojekt nach sechsjähriger Bauzeit in Betrieb genommen, womit sich die Deichlinie im Mündungsbereich des Flusses von 2×30 auf knapp 5 km verkürzte. Seither gab es in Tönning keine Überflutungen mehr.

Wir fahren ins Katinger Watt und stellen das Auto dort ab, wo es vor genau 364 Tagen gestanden hat, am heute eher weißen Vogelbrutgebiet ‘Grüne Insel’. Der Fluss führt Niedrigwasser und seine Mündung zeigt sich als winterliche, zugefrorene Teichlandschaft. Das Fahrwasser weit hinten kann man nur erahnen. Die flach einfallende Sonne spiegelt sich in den Pfützen und lässt die Eiskristalle an ihren Rändern glitzern. Wohl nicht mehr lange, denn der Himmel beginnt sich zuzuziehen.

Eine dünne weiße Reifschicht knirscht unter den Schuhen. Dann ist die Sonne verschwunden und ein leichter Schneewind kommt auf, der Schnee so fein und trocken, dass er von der Kleidung fällt. Die Ohrenspitzen werden kalt; ich krame die Mütze aus dem Rucksack und ziehe sie über. Dann geht es weiter bis zum Sperrwerk und mit etwas mehr Wind um die Nasen wieder zurück. Was braucht der Mensch mehr?

Den Rest des Tages verbringen wir im Kuschel-Cottage. Der Ablauf im Einzelnen:

Früher Nachmittag: Mein Mädchen liest ‘Harry Potter and the Prisoner of Azkaban’.

Später Nachmittag: Mein Mädchen liest ‘Harry Potter and the Prisoner of Azkaban’.

Früher Abend: Mein Mädchen liest ‘Harry Potter and the Prisoner of Azkaban’.

Später Abend: Mein Mädchen liest ‘Harry Potter and the Prisoner of Azkaban’.

22:50 Uhr: ‘Harry Potter and the Prisoner of Azkaban’ ist ausgelesen und wir gehen schlafen.

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Montag, 31. Dezember 2001

Ein strahlend blauer Himmel, darauf ein paar Wolken, von denen sich dann und wann eine vor die Sonne schiebt. Vor uns eine in die Unendlichkeit reichende weiße Fläche mit Myriaden winziger Diamanten, die im Gegenlicht glitzern und beim Vorwärtsschreiten ihre Farbe ändern. Es knirscht unter den Schuhen.

Drei einsame Pfahlhäuser stehen in dieser unendlichen Weite, eine arktische Forschungsstation? Da ist eine Spur im Schnee, weit voraus erkennt man zwei einsame Gestalten. Ob sie den Pol vor uns erreichen?

Niedergeschrieben und fotografiert am Strand von St. Peter Ording am Sylvestertag des Jahres 2001.

St. Peter Ording 31.12.2001, © 2002 Juergen Kullmann
En luklik nai iir 2002
Ein glückliches neues Jahr 2002 !

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Reiseberichte Nordfriesland: 6. Reise, Jahreswechsel 2001/2002
© 2007 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 08.05.2008