Ausflug zu den Ostfriesen

– Ostern 2004 –

 

Gründonnerstag, 8. April 2004

Gewonnen! Dreieinhalb Stunden braucht man von Dortmund nach Carolinensiel, und nicht drei, wie die Leefste meinte. Also nur gut eine Stunde weniger als bis nach Tönning – wichtig zu wissen, wenn wieder einmal die Frage im Raum steht, ob die Reise nach Nord- oder Ostfriesland gehen soll. Unsere Ferienwohnung finden wir erst im zweiten Anlauf. Am Ortsende gewendet, fahren wir langsam zum Ortseingang zurück und entdecken eine schmale Straße, über die wir uns von hinten in die Siedlung mogeln, denn von der Hauptstraße führt nur ein Rad- und Fußweg zum Haus. Lage und Ausstattung der Wohnung sind genial.

Carolinensiel ist – wie ehedem Berlin – in vier Sektoren geteilt, als Sektorengrenze in Ost-West-Richtung die Harle und in Nord-Süd-Richtung die Küstenstraße. Die Harle überquert man mittels einer Brücke, die Küstenstraße mit viel Mut. Es ist ein Ort weder zum Verhungern noch zum Heilfasten, über das in der letzten Viertelstunde im Autoradio ausgiebig berichtet wurde. Die bis übermorgen währende Fastenzeit scheint sich nicht auf den Nahrungsmittelumsatz in den Restaurants auszuwirken. Wir stärken uns preiswert und gut in Jansens Fischimbiss.

Wo heute Carolinensiel liegt, schwammen noch vor wenigen Jahrhunderten die Fische in der Nordsee. Um 1500 begann eine systematische Landgewinnung, und an der Stelle, an der die Harle auf den neuen Deich traf, wurde ein Sielhafen angelegt, der heutige Museumshafen. Durch weitere Neulandgewinnung im 18. Jahrhundert wanderte die Nordsee noch einmal zwei Kilometer nach Norden. Der Ort drohte damit vom Meer abgeschnitten zu werden, also ließ man im Außendeich ein offenes Siel (das heutige Harlesiel), so dass die Fischer über die Harle nach Carolinensiel kamen. Doch die Bedeutung des Hafens nahm immer mehr ab, bis er 1962 zugeschüttet wurde – um dann 25 Jahre später wieder ausgebaggert zu werden. Arbeitsbeschaffung auf Ostfriesisch.

*  *  *

Wir (rad-)wandern die Sielpromenade entlang, dem ‘richtigen Meer’ entgegen. Man kann auch mit dem Raddampfer fahren, der zwischen Carolinen- und Harlesiel pendelt. Das ist gar nicht so teuer, und vielleicht probieren wir es in den nächsten Tagen einmal aus.

Was für ein Gedränge! So viele Menschen sind wir von Nordfriesland her nicht gewohnt. Oft müssen wir die Räder schieben, sei es, um niemanden umzufahren, sei es, um nicht in die Harle geschubst zu werden. Wir passieren eine Pferdekoppel, davor eine Verkaufshütte, in der Stutenmilch angeboten wird. Kleopatra pflegte in dergleichen zu baden, doch kann man die, wenn man nicht gerade ein Fohlen ist, auch trinken? Dann sind wir am Außendeich. An den Strand aber kommen wir heute nicht: “Ihre Kurkarte bitte!” “Äh, ja, ... die haben wir wohl in der Ferienwohnung vergessen.”

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Karfreitag, 9. April 2004

Am Karfreitag hat Deutschland geschlossen. Ganz Deutschland? Nein, nicht ganz. Denn die Ostfriesen haben sich den englischen Namen für diesen Tag zum Motto gemacht: Good Friday – gut fürs Geschäft. Kein Laden in Carolinensiel, der nicht bis in die Abendstunden geöffnet hat!

Neuharlingersiel, © 2004 Juergen KullmannWir machen auf den Rädern eine kleine Ostfriesland-Rundfahrt, besuchen die Stätten einer fünfzehn Jahre zurückliegenden Jugend. Immer am Deich entlang – vor 15 Jahren ging das noch nicht – ist Neuharlingersiel, der neben Greetsiel bekannteste Sielhafen der Nordseeküste, unser erstes Ziel. Alles Volk strömt hier zusammen. Wir sitzen eine Weile am Hafen in der Sonne, machen die unvermeidlichen Fotos und schieben die Räder einmal ums Schloss – wenn man das herrschaftliche Gebäude denn als solches bezeichnen darf.

Hier ist es etwas ruhiger. Wir nehmen Platz auf einer Bank im Rosengarten, doch die Rosen muss man sich zu diese Jahreszeit dazudenken und darf sein Fahrrad nicht auf einer schlafenden abstellen, wie min Deern meint.

Mühle Altfunnixsiel, © 2004 Juergen KullmannWeiter geht es ins Binnenland, durch Feld und Flur nach Alt-Funnixsiel. ‘Urlaub auf dem Bauernhof bei Eilts & Peeken’ kann man immer noch machen, doch vermutlich hat dort bereits die nachfolgende Generation die Zügel in der Hand. Die Windmühle wird nach 15 Jahren erneut fotografiert.

Die ‘Engländerin’, wie wir die Betreiberin eines Restaurants ob ihrer Herkunft immer genannt hatten – man konnte mit ihr zu Übungszwecken etwas Englisch schnacken –, hat ihr Lokal aufgegeben. Statt dessen gibt es seit fünf Jahren den (wie man uns erzählt) bis nach Carolinensiel bekannten Kutscherkrug. Das Essen ist in Ordnung, der Kellner nett, und zum Abschied gibt es für jeden einen Kutscherschluck auf Kosten des Hauses. Mit diesem und dem Bier in den Kniekehlen geht es etwas langsamer wieder heim. Ende der Rundreise.

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Nun muss ich noch etwas zum kulturellen Highlight des Abends schreiben, damit ich bei meinem Mädchen, das dieses entdeckt hatte und unbedingt dorthin wollte, nicht in den Verdacht gerate, es hätte mir nicht gefallen und sie sich dafür verantwortlich fühlt.

Ort der Veranstaltung: die protestantische Kirche zu Funnix.

Da up de Warft,
da wo se steit,

ist sie für den Ausheimischen gar nicht so leicht als Kirche auszumachen; von der Bauart her wirkt sie eher wie ein dreistöckiges Packhaus, bei dem man im Inneren die Zwischendecken entfernt hat. So sehen viele Kirchen hier aus. Manchmal gibt es in der Mitte des Dachfirstes die Andeutung eines Glockenturms, und um zu zeigen, was man sich nicht getraut hat oben draufzubauen, setzt man den richtigen Glockenturm fünfzig Meter neben der Kirche in den Sand. So fällt er, sollte er mal umkippen, nicht auf die Kirche.

Das Innere der Kirche ist geprägt vom maroden Charme aus abblätternder Verkälkung und grünem Holz, die Sitzordnung ungewöhnlich für den, der nur katholische Kirchen kennt: einige Bänke sind – wie erwartet – nach vorne ausgerichtet, andere aber zum Mittelgang. Die Bankreihen sind mit Türchen versehen, die quietschten und klappern, wenn jemand hindurch will. Die Orgel, heute außer Betrieb, steht auf einem Holzgerüst über dem Altar.

Soviel zur Kulturstätte, und nun zu dem, was sich drinnen abspielte: ein evangelischer Abendgottesdienst, musikalisch gestaltet durch ein russisches Vokalensemble aus St. Petersburg. Der Liebsten gefällt’s so gut, dass sie sich anschließend eine CD kauft. Mich beeindruckt die Pfarrherrin, die ein Sprachproblem hat, sich immer wieder leicht verstottert, und der das so gar nichts auszumachen scheint.

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Ostersonnabend, 10. April 2004

Vorab die Zusammenfassung des Tages: Am Vormittag zum richtigen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen und am Nachmittag zum falschen am richtigen.

Zum Vormittag. Das Hooksieler Hafenfest wollten wir besuchen, doch es fand am Außenhafen statt und nicht am Innenhafen, wo wir es suchten. Was wir aber erst sehr viel später erfuhren. Macht nichts, nach Auskunft glaubwürdiger Zeugen war auch am Außenhafen nicht viel los. Und sonst? Anderthalb Jahrzehnte nach unserem letzten Besuch kommt uns Hooksiel wie ein Klein-Büsum vor. Nicht unser Fall.

So fahren wir weiter nach Jever. Hier wird zwar immer noch das beste deutsche Bier gebraut, doch auch diese Stadt hat sich uns entfremdet. Das begann schon im letzten Jahrtausend, als die Teestube unweit des Schlosses in eine Pizzeria umgewandelt wurde, jene Teestube, in der wir vor fast zwanzig Jahren von einem graubärtigen Friesen lernten, dass ‘Morgenstund aller Laster Anfang’ ist. Und der sich strikt weigerte (glücklicherweise hatten nicht wir das Sakrileg begangen, danach zu fragen) zum Tee Zitrone zu bringen. Ein Glas heiße Zitrone – nun, wenn es sein muss, aber Zitrone in den Tee? Igittegitt, entsetzt schüttelte der Graubart den Kopf. Im Winter 1984/85 muss das gewesen sein.

*  *  *

Carolinensiel 2004, © 2004 Juergen KullmannSo fahren wir zurück nach Carolinensiel, schwingen uns auf die Drahtesel und radeln die Harle hinunter zum Außendeich, den Möwen ein wenig zuzuschauen und aus der Ferne das Wasser zu sichten. Doch nicht sehr lange. Zum einen ist es recht windig um die Ohren und zum anderen will uns um 17 Uhr ein Shanty-Chor am Museumshafen in die Seefahrerromantik entführen. Ach wie schön ist es doch, vor Madagaskar eine Pest an Bord zu haben! Wobei man nach bislang unveröffentlichten historischen Quellen unter ‘Pest an Bord’ die Anwesenheit der Schwiegermutter des Kapitäns verstand. Kein Wunder, wenn täglich ein Matrose aus freien Stücken über Bord ging.

Doch ich schweife ab. Wir sitzen seit einer Stunde mit der warmen Mauer im Rücken am Hafen, genießen die Nachmittagssonne und warten auf den großen Auftritt. Die Concordia II, ein Raddampfer, der zwischen dem Hafen und dem Außendeich verkehrt, legt an und wieder ab, und noch immer tut sich nichts. Bis sich eine Dame neben uns setzt und fragt, wann und wo genau hier morgen der Shanty-Chor auftritt ...

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Ostersonntag, 11. April 2004

Eine lange Fahrradtour in Kürze, wobei ihre Länge in etwa der historischen Marathonstrecke entspricht. Doch zunächst einmal stellen wir fest, dass uns der Osterhase besucht hat – vor unserer Tür steht ein Körbchen mit bunten Eiern und ein paar anderen Leckereien.

Auf geht’s, bei Frühlingswetter, in das sich ein paar Regentropfen mischen, am Flugplatz vorbei immer am Deich entlang nach Schillig zum einzigen größeren Sandstrand der ostfriesischen Küste. Der Weg ist recht neu, doch lässt sich das Meer nur ahnen, da er auf der Landseite des Deiches angelegt wurde. “Määh, bääh ...”, bei den Schafen auf der Deichkrone waren Geburts-Tage angesagt – so viele kleine und kleinste Lämmer sahen & hörten wir noch nie. Lieber nicht darüber nachdenken, wo die meisten von ihnen landen werden. Heute Abend kommt uns jedenfalls kein Lamm auf den Teller!

Am Strand von Schillig finden wir eine Bank und besorgen uns zwei Fischbrötchen. So richtig gefällt es uns hier nicht, und das liegt nicht daran, dass sich der Himmel grau zugezogen hat.

Weiter geht es ‘die Ecke rum’ nach Süden. Schön, dass man nun am Wasser radeln kann. Hier beginnt die Einfahrt in den Jadebusen, und alle Tanker, die nach Wilhelmshaven wollen, kommen hier vorbei. Heute sieht man jedoch keine. In Horumersiel beenden wir die Expedition — nicht ganz, denn nun müssen wir wieder zurück nach Carolinensiel! Wir fahren über Minsen und Friederikensiel, das ist etwas kürzer als der Weg am Deich entlang und zudem hoffen wir auf etwas weniger Gegenwind, der uns arg ins Gesicht zu pusten beginnt. Jetzt wissen wir auch, warum uns der Hinweg so leicht fiel.

Es wird Abend. Nach langem Warten haben wir einen Platz in einem Restaurant am Museumshafen ergattert. Mein Mädchen ist so erschöpft, dass sie kaum etwas herunterbringt, und ich klappe dieses Tagebuch zu.

Ende der Stippvisite nach Ostfriesland.

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Reiseberichte Friesland: 10. Reise, Ostern 2004
© 2004-2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 26.11.2008